Das Verbotene reizt. So auch Nora Bossong. Also schnappte sie sich männliche Freunde und Bekannte und recherchierte mit deren Hilfe ein Jahr lang im Rotlichtmilieu. „Rotlicht“ heißt auch ihr Buch, das Anfang der Woche bei Hanser erschienen ist. Von Berlin nach Dortmund, von Hamburg nach Frankfurt besuchte sie Bordelle, Sex Shops und Swingerclubs, beobachtete die Menschen und sprach mit einigen von ihnen. Zum Erstaunen des Publikums und Julia Westlakes, die durch den Abend führt, sagt sie: „Die Kapitel, bei denen ich Zweifel hatte, gab ich meinem Vater zu lesen.“
Bossong musste zunächst lernen, ihre Scham, dieses „das macht man nicht“-Gefühl, zu überwinden. „Das erste Etablissement, das ich aufgesucht habe, war ein Tabledance-Laden, bei dem man klingeln musste. Ich habe mehrere Anläufe gebraucht, bis ich mich reintraute.“ Ganz weggegangen sei dieses Gefühl nie. „Aber gerade Tabus machen diese Orte aus.“ Ihre Erlebnisse im Verlaufe des Jahres waren nicht nur abschreckender Natur, sondern auch neutral oder sogar positiv. Nora Bossong hat viel über die Menschen, die das Milieu aufsuchen, nachgedacht. Sie berichtet von einem melancholisch aussehenden Mann, dem die Frauen im Tabledance ein leichtes Lächeln auf die Lippen zaubern konnten. „Vielleicht gibt dieses Geschäft manchen einen kleinen Moment der Freude“, überlegt die Autorin. „Ich meine, wie trist muss das Leben dieser Männer sein, wenn sie dorthin gehen, um der Tristesse Zuhause zu entfliehen?“
Die Begegnung, die am längsten nachhallt, ist das Gespräch mit zwei Frauen, die auf dem Straßenstrich Berlins anschaffen, erzählt Bossong. „Ich habe mich mit ihnen wie ein Dienstleister getroffen. Ich zahlte hundert Euro die Stunde und ging in ein Stundenhotel.“ Die beiden Frauen waren erstaunlich offen. „Wir haben erst über die wirtschaftliche und politische Situation Ungarns, ihrem Herkunftsland, geredet, und nicht sofort über die siffigen Details.“ Schnell zeigte sich: Beide Frauen sprachen würdevoll über ihren Job und empfanden Stolz. Es gebe Frauen, die für jeden Preis und bei jedem Mann mitgingen, während sie dies nicht täten. „Was ist intimer?“, fragt Nora Bossong, „sich sexuell zu begegnen oder die eigene Geschichte zu erzählen?“
Ob sie das Gefühl empfunden habe, helfen zu müssen, möchte Julia Westlake wissen. Nora Bossong wiegt ab. „Die Frage ist ja, wie man das anstellen soll. Für mich ist die sinnigste Hilfe, zuzuhören und ihnen respektvoll zu begegnen.“ Sie habe schließlich kein Recht, den Frauen ihre eigene Vorstellung des „guten Lebens“ aufzudrängen. In „Rotlicht“ nicht abgebildet sind Prostituierte, die ihren Aussagen zufolge diesen Job lieben würden, und Callboys. Beides käme in der Realität so selten vor, dass sie absolut überrepräsentiert seien, hätte Bossong diesen Themen eigene Kapitel gewidmet. „Prostituierte verlangen ein Viertel von dem, was Callboys bekommen, und machen zehnmal so viel. Außerdem habe ich bemerkt, dass es in dem Geschäft fast nur um Frauen geht.“
Die Autorin hat sich tiefere Gedanken über die übermäßige Präsenz von Sex im Alltag gemacht. „In Frauenzeitschriften werden heutzutage BDSM-Tipps gegeben. Einerseits ist Aufklärung natürlich gut, aber das kippt schnell in eine neue Norm: Wie, du hast das noch nicht gemacht?“ Diese Ambivalenz zwischen sexueller Offenheit und Gruppenzwang nennt Nora Bossong das „Dr.-Sommer-Phänomen.“ Durch ihre Recherchen hat sie auch eine andere Sichtweise auf die Legalisierung von Prostitution gewonnen. „Ich war eigentlich dafür, aber das würde voraussetzen, dass sich beide Verhandlungspartner auf Augenhöhe begegnen.“ Dass dies selten der Fall ist, muss kaum erwähnt werden. „Die Machtposition wird ausgenutzt. Und die Hilflosigkeit der Frauen drückt den Preis.“
Die intensive Auseinandersetzung mit dem Rotlichtmilieu, vor allem Erlebnisse wie der Besuch eines schmuddeligen Kellerkinos mit Gangbang-Area, ging an Nora Bossong nicht spurlos vorbei. „Ich war für eine Woche in ein Kloster. Doch als ich eine Abbildung von Jesus am Kreuz sah, dachte ich nur: Schon wieder ein nackter Mann.“ Sie beeilt sich zu versichern, dass sie religiös sei. Geholfen, Abstand zu gewinnen, habe aber nur das Schreiben über ihre Erfahrungen. „Ich selbst habe bei der Recherche den Schlusspunkt nicht gefunden“, gibt sie zu. Je mehr sie sich mit der Szene befasste, desto mehr Praktiken sexueller Subkulturen und sexueller Devianz begegneten ihr. „Ich vertraue meinem Lektor sehr“, so Bossong. „Und der meinte irgendwann zu mir: Nora, es reicht, du gehst jetzt nicht zu dieser Sexparty in Brandenburg!“
Nach diesen harten Erfahrungen wird sich Nora Bossong in ihrem nächsten Buch wieder mit schöneren Themen auseinandersetzen: Sie plant einen neuen Gedichtband.
lesen.hören 11 in der Alten Feuerwache Mannheim
21. Februar 2017
Rotlicht. Nora Bossong auf dem Strich
Moderation: Julia Westlake