Mit der Sendung „Wild Germany“ begab sich Journalist Manuel Möglich in die Crystal-Meth-Szene, sprach mit Leuten, die sich freiwillig mit HIV infizieren lassen und filmte Militärrollenspieler – und jetzt moderiert er die Lesung von Thorsten Nagelschmidt. Unwillkürlich fragt man sich da: Wie Punk und verrückt ist der ehemalige Sänger der Band Muff Potter wohl noch? Möglich klärt auf: Er und Nagel sind seit zehn Jahren gut befreundet. Mit Nagelschmidt, der die Bühne mit einem kleinen Hüpfer betritt, spricht er zunächst über den ehemaligen Rufnamen des Autors. „Nagel war ein Dorfname“, erklärt dieser, „dort wurden alle mit dem Nachnamen angesprochen. Später als Punk war das natürlich perfekt, so musste ich mich nicht Pipi oder Kaka nennen.“
„Der Abfall der Herzen“ ist Thorsten Nagelschmidts vierter Roman und der erste, den er unter seinem echten Namen veröffentlicht. Seine ursprüngliche Idee war, über eine zerbrechende Beziehung, die auf Kuba gekittet werden soll, zu schreiben. Dafür bereiste er den karibischen Inselstaat und ließ sich zwecks Recherche sogar in ein Krankenhaus einweisen. Trotzdem kam er nicht weiter. „Ich habe beim Schreiben gemerkt, dass ich die Protagonisten Sarah und Felix nicht leiden kann, dass ich ihnen nichts glaube, nicht einmal ihre Namen.“ Im Möbel-Olfe (eine Berliner Bar und kein Möbelhaus!), sprach Nagelschmidt mit einem alten Freund über ihre Vergangenheit und stellte dabei fest, dass er große Lücken in seiner Erinnerung hatte. Was machen, um diese aufzufrischen? Seit rund fünfundzwanzig Jahre, so der Autor, führt er Tagebuch. Also begann er, die Einträge aus dem Sommer 1999 nachzulesen und stellte schnell fest: Das ist Romanstoff, „eine Geschichte voller Liebe, Freundschaft und Verrat“, die er wiederaufleben lassen würde; zugleich solle der Leser beim Making of dabei sein, wozu der Autor auch aktuelle Gedanken aus dem Entstehungsjahr 2015 mitschrieb. Manuel Möglich interessiert sich für seine akribische Dokumentation. Nagelschmidt gibt zu: Die Tagebücher seien für ihn wie „eine Sucht“, beinahe „manisch“ würde er schreiben, allein an diesem Tag habe er schon vier Einträge gemacht. „Inzwischen gibt es 143 Kladden.“
„Der Abfall der Herzen“ basiert zwar auf wahren Ereignissen und wenn Nagelschmidt über seinen Protagonisten spricht, benutzt er das Personalpronomen „ich“, und doch bildet der Roman nicht die Wahrheit ab. Nagel traf sich mit alten Freunden, jenen, mit denen er immer noch in Kontakt stand sowie jenen, die er seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte, um den Sommer 1999 zu rekonstruieren. Während der Interviews bemerkte Nagelschmidt, wie sehr sich die Erinnerungen seiner Bekannten widersprachen. „1999 war ein interessantes Jahr, es war nach dem Kalten Krieg, aber noch vor 9/11 und der Vorabend für die ganzen Veränderungen: Zwar gab es bereits Handys und Internet, aber wir hatten das noch nicht.“ Und dadurch wurde weniger dokumentiert. „Die Geschichten waren wie eine Art der Oral History. Ich habe viel darüber nachgedacht: Wo fängt Fiktion an? Ist nicht jede am Tresen erzählte Anekdote schlussendlich fiktional, da sie nur auf Erinnerungen basiert?“
Nagelschmidt wollte also weniger die Wahrheit, als das Gefühl des Sommers 1999 vermitteln – Geschichten erfinden, um sich der Realität anzunähern. Und das muss nicht immer linear zugehen: „Das Leben ist Chaos, eine Gleichzeitigkeit von allem; es führt nicht zwangsläufig eins zum anderen.“ Diese Mischung aus Fiktion und Dokumentation verursachte verschiedene Reaktionen auf den Roman. „Vielen hat es gefallen. Einer sagte zu mir, er habe nie Glühwein mit dem Wasserkocher erhitzt – auch wenn er zugab, es hätte so sein können“, sagt der Autor. „Andere haben das Buch gar nicht gelesen, weil sie beispielsweise gerade in Therapie waren, um genau diese Zeit aufzuarbeiten.“
Da wir uns in Mannheim befinden, lässt es sich Thorsten Nagelschmidt nicht nehmen, zum Schluss eine ganz bestimmte Anekdote zu seinem zweiten Roman zu erzählen. Darin habe sich der Halbsatz „schwäbische Fahrradfahrer aus Karlsruhe“ versteckt („ooooh!“, ertönt es vom badischen Publikum), den ihm zwei Lektoren und zwei Korrektorinnen nicht gestrichen hätten. In der zweiten Auflage wurde die Stadt nach zahlreichen Beschwerden in Tübingen geändert. „Ich habe das damals in Stuttgart gelesen“, sagt der Autor „und daraufhin gab es Riots!“ Nagelschmidt lacht. Beim Signieren seien mehrere Zuhörer mit der aufgeschlagenen Stelle zu ihm gekommen, damit er sie händisch ändere. „Dafür bin ich ja da!“, scherzt Thorsten Nagelschmidt. „Nach der Lesung korrigiert der Autor das Buch.“
lesen.hören 12 in der Alten Feuerwache Mannheim
02. März 2018
Nineteen Ninety Nine. Thorsten Nagelschmidt liest. Manuel Möglich fragt nach.