Die denkmalgeschützte Halle der Alten Feuerwache ist in ein schummriges Licht getaucht. Der Saal ist voll. Trotz der politischen Lage in Europa, trotz der alles überschattenden Kriegsnachrichten aus der Ukraine, mit ihren dramatischen Bildern von Flüchtenden, ist die Stimmung nicht gedrückt. Vielleicht ist das so, weil wir Zuhörenden wissen, dass wir in den sanften Worten Abbas Khiders, voller Menschlichkeit, Güte und einer ungemeinen Portion Humor, einen sicheren Ort finden, um vom Schmerz und Trauma eines Kriegsflüchtenden zu hören.
Katharina Borchardt, Moderatorin und Redakteurin bei SWR2 sowie einstiges Jurymitglied des Deutschen Buchpreises 2020, spricht mit dem Autor Abbas Khider über seinen; im Januar dieses Jahres veröffentlichten Roman Der Erinnerungsfälscher, in dem er die Geschichte des Deutsch-Irakers Said Al-Wahid erzählt. Wie Khider selbst ist seine Romanfigur Said vor der Saddam-Diktatur aus der alten Heimat Bagdad geflüchtet, hat in Deutschland eine neues zu Hause gefunden, eine kleine Familie in Berlin gegründet. Auch Alter und Aussehen teilt der Autor mit seiner Figur. Dennoch sei Der Erinnerungsfälscher kein autobiografischer Roman. Er gehe nur sehr locker mit dem autobiografischen Stoff um, lässt Khider die Zuhörenden wissen. Mit einem Lachen fügt er hinzu: „Wenn einer noch nicht mal weiß, ob seine Erinnerung echt oder erfunden ist, wie kann der Roman dann biografisch sein?“
Womit das Thema seines neuen Romans umrissen ist. In Der Erinnerungsfälscher geht es um die Geschichte eines Mannes, dessen Gehirn all jene belastenden Erfahrungen – die alte, vom Krieg zerrüttete Heimat, die Namen der Menschen und Straßen, denen er auf der langen Flucht begegnet ist, die Widrigkeiten und Angstmomente – vergraben hat. Saids Erinnerungen sind bruchstückhaft. Weil er jedoch über seine Vergangenheit schreiben will, greift er in die Trickkiste der Pathologie und ersetzt seine; durch das Trauma der Folter verursachten Gedächtnislücken mit Erinnerungsverfälschungen. Said füllt sie mit Fantasiegeschichten und erzählt seine Vergangenheit dadurch neu. Doch dieses vermeintliche Heilmittel beginnt sich zu verselbstständigen. Zunehmend weiß Said nicht mehr, ob das, was ihm geschieht, real oder erfunden ist. Ein witziges Verwirrspiel umhüllt die Dramatik der Erzählung.
Beim Vorlesen aus seinem Roman bringt Abbas Khider seinen ganzen Körper zum Einsatz. Mit beiden Händen wird gestikuliert, seine Arme öffnen und schließen sich, sein Körper biegt sich nach hinten und nach vorne, in seiner Stimme liegt stets ein besonderer, nicht leicht greifbarer Witz. Khiders Lebendigkeit ist ansteckend. Die Mannheimer*Innen gehen mit. Sie lachen und applaudieren. Etwas verblüfft über die Heiterkeit gesteht Katharina Borchardt, sie habe beim alleinigen Lesen dem Roman eine weit ernstere Stimmlage entnommen. Khider räumt ein: „Der Erinnerungsfälscher ist ja auch das traurigste meiner Bücher.“ Insgeheim merken die Leser*Innen, dass Said die ganze Zeit vor seiner eigenen Trauer flüchte. Eine Mischung aus Leichtigkeit und Witz sei dennoch die zwingende Darstellungsform für ihn, denn ihm läge daran, die Leser*Innen zu schützen und sie nicht mit belastenden Details des Krieges zu „foltern“. Dass Khider in seinem Roman nicht explizit von den Gräueltaten berichte, die Said erlebt hat, sondern von diesen nur beiläufig erzählt wird, gehe außerdem daraus hervor, wie „Menschen, die harte Dinge erlebt haben, mit ihrem Gedächtnis umgehen – für sie ist das Vergessen eine Gnade der Natur“. Auch wenn Saids Leid den Leser*Innen nicht aufgezwungen wird, ist es doch der Grund für sein Festhalten an der rettenden Leichtigkeit, herbeigetrickst durch die Wohltat der Erinnerungsfälschung.
Saids Bedürfnis, sich mit viel Fantasie eine neue Wirklichkeit zu schaffen, wirft für Khider und Borchardt auch die Frage danach auf, ob eine staatlich tradierte Erinnerungskultur, das gesellschaftlich gesetzte Nicht-Vergessen-Dürfen auch eine Zumutung für Betroffene seien kann. Während seiner Recherchearbeit über den Umgang mit der Vergangenheit von Überlebenden der Shoa, sei Khider immer wieder auf Biografien von Menschen gestoßen, die sich auch deshalb für ein Leben außerhalb Deutschlands entschieden haben, weil hier ein Loslassen der schrecklichen Erinnerungen kaum möglich sei. Das Bedürfnis, Abstand zu gewinnen, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, empfänden sie als unumgänglich, um sich selbst die Chance auf eine Zukunft zu eröffnen. Dies gehe in einem fremden Sprach- und Kulturraum leichter, da persönliche Erinnerungen an das vergangene Leid nicht immer wieder gesellschaftlich verhandelt würden.
Mit Borchards Frage, warum Khider gerade auf Deutsch schreibe, und nicht in seiner Muttersprache Arabisch, tritt jenes universelles Phänomen zu Tage, das auch viele NS-Opfer begleite. Die Sprache, die einst eng an das Gefühl von Heimat und Sicherheit geknüpft war, verwandelt sich. Sie ist nun Befehlssprache, Unterdrückungssprache, also die Sprache des Feindes, mit der Terror und unsägliches Leid konnotiert sind. Nach erlebter Folter und dem Verlust vieler Familienangehöriger unter der Diktatur Saddam Husseins, wollte Abbas Khider die arabische Sprache nicht mehr hören, wie er erläutert. Im Jahr 2000 findet er in Deutschland dann nicht nur eine neue Bleibe, sondern im Deutschen auch ein Heimatsgefühl wieder. Diese neue Sprache ist für Khider ein „Schutzraum“, in dem er seine Liebe zur Literatur und Philosophie ganz unbelastet nachspüren kann. „Mit jedem Buch, das ich schreibe, entdecke ich neue Seiten der deutschen Sprache, die mir auch neue Seiten an mir selbst eröffnet.“ Die deutsche Sprache und das literarische Schreiben bedeuten für Khider nichts weniger als seine neue Heimat.
Abbas Khiders literarisches Schaffen ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil der deutschsprachigen Literaturlandschaft avanciert. Denn auch für uns Lesende verändert sich mit seinen Geschichten die Wahrnehmung des eigenen Lebensraumes. Das Portrait des Erinnerungsfälschers Said ist exemplarisch für die vielen anderen Mitglieder unsere Gemeinschaft, die ähnlich belastende Erfahrungen gemacht haben. Der Roman steht aber ebenso für die Kraft der Literatur an sich. Mit viel Sensibilität und Witz zeigt Khider, dass Literatur die Möglichkeit einer alternativen Selbstbeschreibung bereithält. Das macht Sinn: denn für ihn ist „Literatur ist eine offene Welt, die jeden umarmen kann“.
02. März 2022
Abbas Khiders vorläufige Retrospektive. Erinnerung. Vielleicht