Herta Müller über ein „Zebra“ und die Absurdität des Krieges.

Der abgedunkelte Saal der Alten Feuerwache ist erfüllt von angeregten Gesprächen. Der Abend verspricht, intensiv zu werden. Von einer kurzen Rede über die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine leitet Insa Wilke, Literaturkritikerin und Leiterin von „lesen.hören“, zu Herta Müllers neuem Buch über: „Der Beamte sagte“ – eine Erzählung aus Collagen, welche aus einzelnen ausgeschnittenen Wörtern bestehen. Herta Müller beziehe schon seit Jahren regelmäßig in Medien wie der FAZ Stellung über Vorgänge im Land, so Wilke. Politik, Literatur und Herta Müller werden bei dieser Veranstaltung miteinander verschmelzen, die Themen kaum zu trennen sein.

Dann treten die gebürtige Banater Rumänin und ihr langjähriger Freund, Lyriker und Übersetzer Ernest Wichner auf die Bühne. Ernest Wichner ergreift das Wort. Planänderung: Es gehe aus gegebenem Anlass zunächst nicht um jene „vorwitzigen Wörter“, wie es im Programm steht, sondern um den Roman „Atemschaukel“, für den Herta Müller 2009 den Nobelpreis erhalten hat. Im Roman geht es um die Strafgefangenschaft des 17-jährigen Protagonisten Leopold Aubergs, der fünf Jahre seines Lebens im sowjetischen Arbeitslager Nowo-Gorlowka verbringt. Die Geschichte habe sich aus Gesprächen mit ehemaligen Gefangenen ergeben. Darüber hinaus sei der Protagonist besonders stark von der Zusammenarbeit mit dem rumäniendeutschen Dichter Oskar Pastior geprägt, der viel von seiner Verschleppung 1945 zu berichten hatte. Zusammen reisten Müller, Wichner und Pastior in den Südosten der Ukraine. „Wir fragten die Leute nach den Lagern und den Opfern“, berichtet Ernest Wichner. „80.000 aus Rumänien, der Slowakei und Russland mussten es gewesen sein, doch man durfte sich nicht erinnern.“, ergänzt Herta Müller. „Diese Geschichtsvergessenheit, die ideologische Verfälschung der Russen, die der staatlichen Propaganda dient“, lassen die Schriftstellerin den Kopf schütteln.

Es war übrigens ihre Mutter, die sie dazu gebracht habe, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Diese habe „versteinerte Sätze“ mit „einem Gewicht im Nacken“ vor sich hin gemurmelt, sagt Müller und zitiert: „Durst ist schlimmer als Hunger, Wind ist kälter als Schnee.“ Immer wenn ihre Mutter der kleinen Herta Müller die Haare kämmte, habe sie von ihrem eigenen kahl geschorenen Kopf im Arbeitslager erzählt.

Dann liest Herta Müller einen Auszug aus „Atemschaukel“. Die schwarze Brille sitzt weit vorn auf ihrer Nasenspitze, ihre rauchige Stimme mit dem durchdringend gerollten „r“ füllt den Raum, jeder Satz wird von den Zuschauer*innen förmlich aufgesogen. Die Passage erzählt zum Schluss von der Kindheit Leopold Aubergs, der bereits im Alter von neun Jahren ein Kätzchen tötete, das ihn gebissen hatte. „Wenn man einmal das Drücken anfängt, kann man nicht zurück.“, zitiert sie ihren Protagonisten. Er erinnere sie an Putin, der sich immer weiter radikalisiert habe.

Geht es um Putin, ist die Autorin in ihrer Wortwahl nicht zimperlich. Der „anspruchslose, kleine Geheimdienstmann“, der den „Alkoholiker Jelzin“ ablöste, sei in einen „völligen Wahn“ geraten, den sie ihm nicht zugetraut habe. Jeder Diktator verliere irgendwann seinen Verstand, „das bisschen, was er noch hat“. Doch täuschen könne er sie nicht. „Mit sechzehn Jahren ist Putin zum KGB gekommen“, habe keine andere Sozialisation als die der kriminellen Hinterhöfe erfahren. „Geheimdienste kennen keine Wahrheit“, fasst Herta Müller zusammen. Und wie jeder Diktator fälsche auch Putin die Geschichte. Er kämpfe mit „erfundenen Dingen“, wie der „Entnazifizierung der Ukraine“, dem behaupteten „Genozid der Ukrainer“ an den russischen Separatisten. Es sei die „Machtgier der Lüge“, die in ihm nun erkennbar sei. Die Autorin appelliert: „Putin muss gestürzt werden.“ Reden helfe nicht mehr, nein: Sie wünscht ihm „eine goldene Kugel gegen all den geklauten Kitsch“.

Mit seiner nächsten Frage versucht Ernest Wichner sie von den politischen Abgründen weg, wieder hin zur Literatur und der ungewöhnlichen Gestaltung ihres neuen Buches „Der Beamte sagte“ zu lenken. Habe sie von Anfang an geplant, eine größere Erzählung aus Collagen zu machen? „Es hat sich so ergeben.“, antwortet Herta Müller. Sie habe das Wort „Beamte“ in der Zeitung gefunden und es ausgeschnitten. „So einen Beamten findet man nicht oft“, erklärt sie, „obwohl seit 2015 so viel geflohen wird“. Das Wort „Flucht“ finde man dagegen häufig, wobei sich die Schriftstellerin auf Zeitungsberichte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015/2016 bezieht. Die plötzlich auftauchenden Wörter helfen der Banater Schwäbin, ihre eigene Fluchterfahrung zu verarbeiten, bei der sie viel in Kontakt mit Beamten geriet: 1987 ist Herta Müller in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert. Die Schriftstellerin, die unter der neostalinistischen Diktatur Nicolae Ceaușescus schrieb und sich in den 70ern politisch in der „Aktionsgruppe Banat“ zusammen mit dem kommunistischen Schriftsteller Richard Wagner, ihrem damaligen Ehemann, sowie Rolf Bossert, Ernest Wichner und anderen engagierte, wurde verdächtigt, eine Agentin zu sein und später sogar verfolgt, erzählt sie dem Publikum. Diese „Dialoge und Absurditäten“ der Beamten könne sie nicht vergessen und lassen sich demnach in den Collagen wiederfinden. Man habe keine Chance gehabt gegen jenen „ahnungslosen Beamten, der missverstehen will“. Es sei nur darum gegangen, den Selbstwert der Beamten zu stärken. Die Lüge sei immer das Grundmuster der Verhöre gewesen.

Ernest Wichner liest den ersten Satz aus dem Collageband vor: „Manchmal hab ich mich vermisst oft haben mich die fremdesten Möbel im Abteil des Zuges unverhofft beim Wohnen erwischt.“ Herta Müller erläutert, man habe kein anderes Zuhause beim Flüchten als das Abteil im Zug. Ein Gefühl, das sie aus eigener Erfahrung kennt: Mit ihren 32 Jahren wurde sie wieder in eine Art Kindheit versetzt, da sie nichts mehr gekannt habe, nichts verstanden und unsicher gewesen sei. Deutschland offenbare eine völlig andere Realität, versucht Herta Müller dem Publikum zu vermitteln. Sonst sei man überall in den Zügen schnell ins Gespräch gekommen. Doch nicht in Deutschland. Hier habe man einfach „ins Leere gestarrt“. Im Gegensatz zu vielen flüchtenden Ukrainer*innen habe sie damals aber das Glück gehabt, Deutsch zu sprechen. Denn ohne Sprache fehle einem komplett der Sinn.

Nun erscheinen die Collagen auf dem Bildschirm auf der rechten Seite der Bühne, in denen einige der „Beamten“ vorgestellt werden. Jedes einzelne Wort ist in seiner Einzigartigkeit zu sehen, ist ein Kunstwerk an sich und verschmilzt mit anderen Wörtern in verschieden Größen und Formen zu einer Art Gedicht. Ernest Wichner geht näher auf die Erzählung ein und fragt seine Schriftstellerfreundin, welche Bedeutung das Wort „Zebra“ habe, das zwischen Collagen auftauche, in denen der Suizid von jemandem thematisiert wird, der sich im Bad erhängt hat. Mit dem „Zebra“ beziehe sie sich auf den Satz jenes toten Freundes, an den die Collagen erinnern, so Müller: Es war Rolf Bossert, der durch seine Kunst in den Konflikt mit Machtinstanzen geriet, daraufhin verfolgt wurde und brutale Gewalt erleiden musste. Der Lyriker aus Banat sei damals, nachdem er 1985 nach Bukarest geflohen war, „aus der Realität herausgesprungen“. Berichten zufolge habe er sich aus dem Fenster gestürzt. Herta Müller schaut kurz auf und blickt ins Leere. „Suizid heißt nicht, dass man das Leben nicht liebt. Im Gegenteil.“ Wenn man der „Wirklichkeit“ nicht mehr gewachsen sei, verfalle man – wie Bossert – in die Ironie. Er wäre wohl der „fröhlichste Verzweifelste“ gewesen. So seien seine Witze auch oft nur „gekippte Tragik“. Wenn die Freunde damals über all das um sie herum redeten, vergaßen sie manchmal mitten im Satz, worum es eigentlich ging, so Müller. In diesen Momenten habe Bossert immer gesagt: „das Zebra war das Thema“, woraufhin alle lachen mussten. Das Zebra stehe für die Absurdität, die man nicht deuten kann.

„Wie hat es sich angefühlt, an den Collagen zu arbeiten?“, fragt Ernest Wichner zum Abschluss des Abends. Es sei keine Freude gewesen, aber ein Bedürfnis, antwortete Herta Müller. „Die Wörter kommen von außen, die Erfahrung von innen.“ Sie habe keine andere Wahl gehabt, sie „musste es tun“: „Der Beamte und die anderen Figuren mussten einen Raum bekommen“, damit sie als Person etwas in der Hand habe in jener Fremdheit, in der sie immer noch lebe. „Man erfindet etwas, um den Eindruck zu haben, man kenne sich aus. Man schafft sich etwas, um sich darin auszudrücken.“

„Vielen Dank für Sie mit der Maske. Die werden wir nicht loswerden in der nächsten Zeit.“, verabschiedet sich die Schriftstellerin vom Publikum. So wie Herta Müller ihre Sucht nach Wörtern nicht so schnell ablegen wird, wie sie uns an diesem Abend verrät. Denn so ein Wort wie das „Zebra“ sei für sie nur ein kurzes Glück.

Herta Müller und Ernest Wichner sprechen über vorwitzige Wörter, Ohnmacht und Heimweh
07. März 2022

Von Katharina Schirp

Ich mache den Master „Literatur, Medien und Kultur der Moderne“ an der Universität Mannheim, da es in meinem Leben um den menschlichen Ausdruck in der Literatur und das eigene Schreiben geht.