Obwohl es 11 Uhr morgens ist, steht vor der Alten Feuerwache bereits eine riesige Schlange. Alle wollen zur letzten Lesung des Festivals „lesen.hören16“, das Schauspieler Edgar Selge mit seinem autobiografischen Roman „Hast du uns endlich gefunden“ abschließen darf. Nachdem die Zuschauer*innen den Saal gefüllt haben, erscheint das Team der Alten Feuerwache zusammen mit Programmleiterin Insa Wilke auf der Bühne, die das Lesefest mit einer feierlichen und zugleich traurigen Rede eröffnet. Traurig, weil einerseits das Festival schon wieder vorbei ist, andererseits der Krieg in der Ukraine weiterhin ein wichtiges Thema bleibt, das jeden beschäftigt. Insa Wilke stellt nochmal die zur Unterstützung der Ukraine organisierte Bibliothek vor und macht auf den ukrainischen Autor Walerjan Pidmohylnyj und seine Klassiker „Kein zu großes Drama“(ukrainisch Невеличка драма – Newelytschka drama, 1930) und „Die Stadt“ (ukrainisch Місто – Misto, 1928) aufmerksam. Nach der Abschiedsrede und der Danksagung von Wilke im Namen des ganzen Teams, begrüßt das Publikum den bekannten Schauspieler und literarischen Debütanten Edgar Selge und den nicht weniger bekannten Literaturkritiker und Autor Ijoma Mangold.
Mangold wirkt selbstbewusst und spricht laut und deutlich, fast schon theatralisch. Er erzählt von seiner – als Heidelberger – persönlichen Verbindung zu Mannheim und davon, wie er Edgar Selge zum ersten Mal begegnete: In den Münchner Kammerspielen, wo Selge 1991 die Rolle des Sekretärs Licht in einer Inszenierung von Kleists „Der zerbrochene Krug“ spielte. „Als ich dieses Buch, diesen Roman, wie immer wir es nennen wollen, gelesen habe“, sagt Mangold dann über „Hast du uns endlich gefunden“, „hatte ich natürlich diesen jungen Edgar Selge als Licht vor Augen“. Und ergänzt: „Über die Gattungsfrage werden wir gleich noch reden.“
Mangold nennt das Buch „ein Bilderbuch einer Bildungsbürgerfamilie“ und vergleicht die Eindrücke beim Lesen mit Erlebnissen aus seiner eigenen Kindheit. Zwar ist Mangold völlig anders aufgewachsen, in der Vorstellung aber, dass Kunst das höchste Ideal ist, das einem im Leben Halt gibt, erkennt er sich wieder. „Und wenn man das so feiert, hat man das Gefühl, man könnte doch eigentlich nicht bei den falschen Menschen sein“, sagt Ijoma Mangold. Das wird direkt von Selge aufgegriffen: „Das ist eine sehr gefährliche Hypothese.“ Die Zuschauer*innen lachen und Selge, der bis jetzt sehr zurückhaltend wirkte, wird ein sichtbar lockerer.
Das zentrale Thema des Werkes ist die Musik. Der Vater von Selge war ein leidenschaftlicher und sehr guter Pianist, die Mutter spielte Geige. Selge erzählt vom Druck, der durch das hohe Niveau Vom Vater, musikalisch sehr erfolgreich, der Familie auferlegt wurde. Die schwierige Frage, mit der Selge sich sein Leben lang beschäftigte, ist die Trennung von Kunst und ebendiesem Druck: Sollte man Druck als etwas Negatives betrachten sollte? Das führt Selge zu der Frage der Hierarchie, die in der Kunst und ihrer Rezeption herrscht. Ein Kapitel in seinem Buch widmet er diesen Gedanken, um zu zeigen, dass die Rezeption, also das Lesen, das Sehen und das Hören, den gleichen schöpferischen Wert habe wie das „Kopulieren“ oder das Schreiben.
Ijoma Mangold fragt nach dem Vater, der als Gefängnisdirektor arbeitet, ein hochgebildeter intelligenter Mann, der Klavier spielt, Hauskonzerte organisiert und den Kindern am Wochenende aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ vorliest. „Eine leicht überraschende Kombination aus Gefängnisdirektor und dem Hobbypianist führt in Ihrem Buch zu einer herrlichen Mitwirkung von diesen Welten“, zeigt sich Mangold begeistert. Edgar Selge erzählt von der Wichtigkeit der Hausbesuche von Gefangenen und den Geigenprofis unter ihnen, weil Selge den Antisemitismus in der eigenen Familie mit der Leidenschaft zum Geigenspiel als eine Art der symbolische Entschuldigung verbindet.
Danach liest er die ersten Seiten, auf denen er diese Hauskonzerte, die Stimmung, die Proben und die Vorbereitungen, die oft auch die Familienverhältnisse beeinflussen, schildert. Wenn Selge vorliest, merkt man dem Schauspieler seine Profession an. Seine Haltung verändert sich, er dreht sich zum Publikum und jegliche Distanz verschwindet. Die Zuhörer*innen sind begeistert von ihm, immer wieder kommt Lachen auf.
Ja, die Musik und ihre Universalität stehen definitiv im Zentrum dieser Geschichte. Aber auch die Schicksale der Gefangenen, der Generationen von Juden, Russen und Deutschen, die politischen Konflikte und der Nationalsozialismus, dessen Verbrechen der Autor als „pure Schizophrenie“ bezeichnet – all das wird in diese ganz persönliche Geschichte eines zwölfjährigen Jungen eingebettet. Mehrmals betont Selge, wie relevant die kindliche Sicht in diesem Buch ist. Das Schreiben selbst sei ihm nicht leichtgefallen, er musste mehrere Versuche vornehmen, um die richtige Erzählperspektive zu finden. Zwei Jahre habe er dafür gebraucht und sich mithilfe seiner Lektorin Katharina Schlott schließlich für die Ich-Perspektive eines Kindes entschieden, um die Erinnerungen ohne Wertung und ohne die spätere Verarbeitung beschreiben zu können.
Ein weiterer wichtiger Punkt beim Aufbau ist, dass der Roman topologisch ohne jegliche Entwicklung geschrieben wurde. Er besteht aus einzelnen Passagen der Erinnerung, die im Hinblick auf ihre fiktionale Strukturiertheit ähnlich einem Puzzle das Gesamtbild ergeben. „Ich wollte erzählen, ohne zu werten. Und das ist sehr schwer, denn würde ein Erwachsener die Geschichte erzählen, käme man schnell zu der Frage: Wo musst du deine eigene Haltung genauer dokumentieren? Dadurch, dass ein zwölfjähriges Kind berichtet, gibt es die Möglichkeit, ‚unverarbeitet’ zu erzählen“, erklärt Edgar Selge. Mangold bezeichnet diese Perspektive als brillant, weil man nur aus einer solchen auch das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn beschreiben könne. Es sei ein Verhältnis zwischen Täter und Opfer, eine schizophrene Situation, in der das Kind, das Gewalt und Missbrauch erlebt, den Täter zu schützen und zu lieben versuche.
Dann kommt Mangold auf die Frage nach der Gattung zurück. Edgar Selge antwortet: „Ich habe einfach geschrieben und nicht versucht, irgendeine Schublade zu finden. Diese Diskussion gab es auch mit dem Verlag. Es ist eigentlich kein Roman, sondern ein Buch, das sich von den bildungsbürgerlichen Vorstellungen abzusetzen versucht.“
Der letzte wichtige Punkt, über den Selge und Mangold sprechen, ist die sexuelle Belästigung durch den Vater. Neben Prügel gibt es diese „Maßregelung“, wie es Ijoma Mangold bezeichnet und Selge um eine Erläuterung bittet. „Es gibt da eine Szene im Bad. Und etwas passiert, was wir nach dem Stand der Gegenwart heute als sexuellen Missbrauch einordnen würden.“ Die Situation mit dem Vater wiederholt sich, seine Brüder kennen das auch. „Ich scheue mich heute angesichts von öffentlichen Diskussionen und Outings von Menschen, die Missbrauch erlebt haben, das als Missbrauch zu bezeichnen. Ich habe versucht, das mit diesem Text zu bearbeiten, weil es einfach zu dieser Jugend mit dazugehört“, sagt Selge. Er erzählt, dass seine Frau dies als Auswirkungen des Krieges erklärt: Sein Vater hatte das Bedürfnis zu zeigen, wer der Herr im Haus ist. Diese Begründung findet Selge als sehr gut; für viele sei sie zu sanft und zu entschuldigend, aber in seiner persönlichen Situation sehe er diesen Teil der Geschichte als etwas, was „dazu gehöre“, und nicht als einen Missbrauch an.
Ijoma Mangolds abschließender Kommentar fasst die verschiedenen Facetten des Vaters in Anbetracht der historischen Epoche und seiner politischen Sichten zusammen. Das Spezifische in diesem Buch sei die Geschichte des Kampfes gegen den Kommunismus und gegen den Kitsch. Die beiden auf der Bühne bekommen standing ovations von den Zuschauer*innen. Mangold weist noch mal darauf hin, dass der Tag damit nicht zu Ende gehe und lädt alle zum Büchertisch ein, an dem Selge das heute besprochene Buch „Hast du uns endlich gefunden“ signieren wird. Das Publikum nutzt die Gelegenheit, um mit dem Star des Tages persönlich über diesen „Roman/Kein Roman“ zu sprechen.
Edgar Selge erzählt von Kindheit, Kriegsfolgen und rettender Musik. Ijoma Mangold fragt
13. März 2022