Die Bühne der Alten Feuerwache ist fast so dunkel wie der Zuschauerraum, nur die drei Sitzboxen, in denen Beate Tröger, Dinçer Güçyeter und Marc Sinan platznehmen, sind in warmes Licht gehüllt. Als „Debütanten, die keine sind“ stellt Moderatorin Tröger ihre Gäste vor – beide Autoren haben schon einige Werke veröffentlicht, bringen heute jedoch ihre ersten Romane mit. Güçyeter ist bereits als Lyriker und Verleger des von ihm gegründeten ELIF Verlags bekannt. Als ihm die mikrotext-Verlegerin Nikola Richter vorschlug, aus seinen Facebook-Posts ein Buch zu machen, protestierte er zunächst, wie er im Gespräch verrät. Das sei ihm zu einfach! Stattdessen befragte er seine Tanten nach deren Familiengeschichte und schrieb kurzerhand den Roman Unser Deutschlandmärchen. Marc Sinan wiederum war vor seinem Romandebüt schon lange als Komponist und Gitarrist etabliert, als Musiker wurden ihm bereits zahlreiche Preise verliehen. In seinem Roman Gleißendes Licht, der erst vor wenigen Wochen im Rowohlt Verlag veröffentlicht wurde, beschäftigt sich sein Protagonist erstmals mit der eigenen Familiengeschichte – und wird unverhofft mit den Verwicklungen seiner Vorfahren in den Völkermord an den Armeniern vor mehr als hundert Jahren konfrontiert.
Als erstes liest Dinçer Güçyeter einen Ausschnitt aus seinem Buch. Dieser handelt von Fatma, die einem Mann mit riesigem Kopf in die Fremde (sprich: nach Deutschland) folgt, und dort den kleinen Dinçer zur Welt bringt. Doch im Gespräch danach geht es erst einmal nicht um den Text. Beide Autoren drücken stattdessen ihre Gefühle bezüglich der aktuellen Situation in der Türkei und in Syrien aus. Marc Sinan erklärt, dass das Erdbeben ausgerechnet die ärmste Region der Türkei getroffen habe, in der die soziale Schieflage schon vor dem Unglück besonders stark zu spüren war. Und er stellt eine Verbindung zum eigentlichen Thema des Abends her: „Es betrifft genau die Menschen, von denen Dinçer und ich schreiben.“ Auch Dinçer Güçyeter ist wegen dieser Katastrophe erschüttert. Dadurch, dass er in Deutschland aufgewachsen ist, habe er die Türkei immer eher als Urlaubsland betrachtet. Dennoch merke er jetzt: „Ich trage seit drei Wochen irgendetwas in mir.“
Danach unterhalten sich die Schriftsteller über die Bedeutung des Schreibens. Dinçer Güçyeter spricht von der heilenden Wirkung, die der Schreibprozess für ihn habe. Es sei, als würde er in einen Spiegel schauen und verstehen, was die Generationen vor ihm gespürt haben, so der Autor. „Schreiben hat auch meiner Familie geholfen“, sagt er und meint damit besonders die Versöhnung mit seiner Mutter, von der er sich während seiner Teenagerjahre entfernt hatte und der er dank der Arbeit an seinem autofiktionalen Roman wieder näherkam. Sein Fazit: „Schreiben wird auch meinen Kindern helfen.“ Marc Sinan dagegen ist sich der therapeutischen Wirkung des Schreibens nicht so sicher. Er liebe es, sich hinzusetzen und einen Text zu formulieren. Das sei aber auch gefährlich, sagt er, schließlich könne dies „Wunden wieder aufreißen“.
Offensichtlich liebt Sinan auch das Improvisieren – er möchte spontan eine andere Textstelle lesen als vorher abgesprochen. Moderatorin Beate Tröger, die sein Buch zweimal gelesen habe, wie sie sagt, ist flexibel, und so wählt Marc Sinan einen Ausschnitt, der von Kaan erzählt, dem toxischen Protagonisten in Gleißendes Licht, der seine Freundin austrickst, mit ihm auf Reisen zu gehen, anstatt sich von ihm zu trennen.
Schließlich fragt Beate Tröger ihre beiden Gäste noch nach den beeindruckenden Frauen in ihren Romanen, da ihr aufgefallen ist, dass diese in beiden Werken besonders positiv beschrieben sind. Güçyeter bergründet diese Entscheidung damit, dass er die Frauen in seinem Leben sehr gern gemocht habe. Sie seien sehr aufgeschlossen gewesen, und auch seine Kreativität habe er ihnen zu verdanken. Auch Sinan wurde, wie er erzählt, von „starken“ Frauen großgezogen und wollte in Gleißendes Licht besonders seiner Großmutter eine Stimme verleihen, die als Überlebende des Genozids an den Armeniern und als Waisenkind aufgewachsen ist.
Erneut liest Dinçer Güçyeter den Zuschauer*innen etwas vor. Diesmal aus seinem Lyrikband Mein Prinz, ich bin das Ghetto,für den er 2022 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Gedicht über einen Jungen und dessen hohe Erwartungen an einen Friseurbesuch dient als Comic Relief und entlässt das Publikum mit einem Schmunzeln in die Pause.
Als das Licht auf der Bühne zum zweiten Mal angeht, stehen dort ein Pult, eine Akustikgitarre und zwei Standmikrofone. Die Mikrofone sind für Dinçer Güçyeter und Marc Sinan – die „zwei neuen besten Freunde“, wie Sinan es ausdrückt. An das Pult stellt sich Karsten Lipp, Mitglied der Marc Sinan Company, und der musikalische Teil des Abends startet: Marc Sinan hat Musik mitgebracht, von der er sich vorstellt, sein Protagonist Kaan hätte sie komponiert.
Das Lied beginnt mit vorsichtigen Gitarrentönen, dann kommt Dinçer Güçyeters kräftige Stimme dazu. Er liest, einer Art Poetry Slam gleich, von Flügeln und Nebelschleiern, während rotes Licht im Rhythmus in das Publikum strahlt. Zum tiefen Rauschen des Synthesizers mischt sich das Rascheln der Seiten, wenn Güçyeter umblättert. Das Publikum ist von dieser lyrisch-musikalischen Darstellung noch immer gebannt, als sich Sinan und Güçyeter am Ende der Performance umarmen und ihre Freundschaft besiegeln, indem sich beide jeweils einen Ohrring abnehmen und dem anderen überreichen. Mit einem Strahlen im Gesicht und den Worten „Jetzt bin ich ’ne richtige Lady Gaga“, verlässt Dinçer Güçyeter die Bühne. Die Marc Sinan Company gibt noch ein weiteres Musikstück zum Besten und so geht ein berührender Abend für Sinne und Emotionen zu Ende.
Glanz und Tragik. Dinçer Güçyeter und Marc Sinan über deutsch-türkisch-armenische Geschichte
26. Februar 2023