lesen.hören 17: Eine notwendige Zumutung – Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree geben Shoah-Überlebenden eine Stimme

Maryam Zaree, Carolin Emcke und Lena Gorelik beim Diskutieren

Lange haben die drei Autorinnen darüber nachgedacht, „welche Art von Zumutung“ es brauche, sagen sie zu Beginn dieses denkwürdigen Abends. Wie kann man Texte von Shoah-Überlebenden angemessen vortragen? Sie kamen zu dem Schluss, dass dieser Abend eine „Zumutung“ sei, sowohl für die Lesenden auf der Bühne als auch für die Zuhörenden im Publikum.

Die Vortragenden auf der Bühne sind Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree, die sich alle drei komplett in schwarz gekleidet haben. Dass diese Veranstaltung besonders ist, liegt von Anfang an in der Luft. Aus dem Publikum ist kein Mucks zu hören. Auf der Bühne schauen sich die Frauen erst gegenseitig an, schauen dann auf ihre Texte, als ob sie genug Kraft sammeln müssten, um sich ihnen zu widmen. Als Erste ergreift die Filmemacherin Maryam Zaree das Wort und liest mit eindrücklicher Stimme einen Auszug aus dem Text „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi.

Als dieser zu Ende ist, begrüßt Carolin Emcke zunächst die Anwesenden und spricht dann davon, dass dies „ein etwas ungewöhnlicher Abend“ werde. Was ist das Ungewöhnliche an dem Abend? Die drei Autorinnen lesen keine eigenen Texte, sondern welche von Überlebenden der Shoah. Daher können sie „nicht so tun, als würden sie einfach irgendwelche Texte lesen“. Es müsse eine Zumutung für alle im Saal sein. Die drei Vortragenden wollen den Autor*innen gerecht werden; eigentlich stünde ihnen gar nicht zu, darüber zu entscheiden, was gelesen wird und was nicht. Hinter der Lesung steckt nicht umsonst fast ein Jahr Arbeit und intensiver Diskussion.

Carolin Emcke leitet in den Abend ein

Emcke erklärt, dass die Motivation für die Veranstaltung ein Unmut darüber gewesen sei, wie in Deutschland von „Erinnerungspolitik“ geredet werde. Betont durch ihre Gestik, lässt sie ironisch und pathetisch für die Erinnerungspolitik typische Floskeln fallen wie „nie wieder,“ die ihrer Meinung nach hohl geworden seien. Wie soll ein „nie wieder“ der Erinnerung beitragen, fragt sie, wenn nicht darüber geredet wird, was nie wieder geschehen soll?

Für diesen Abend wird bewusst nicht vorgegeben, wie die Zuhörenden auf die Texte reagieren sollen. Der Wunsch der drei Frauen auf der Bühne ist schließlich, dass die Texte das Publikum berühren sollen, und dabei ist jede Reaktion erlaubt. Man darf ausdrücklich schmunzeln, wenn etwas Witziges erzählt wird, man darf wütend sein, traurig, man darf aus dem Saal gehen und man darf auch wieder reinkommen.

Lena Gorelik, Autorin von Büchern wie „Wer wir sind“ und „Meine weißen Nächte“, beugt sich beim Lesen so weit nach vorne, als wolle sie den Text komplett in sich aufnehmen. „Kein Italiener und kein Deutscher traute sich zu sehen, was Menschen tun“, zitiert sie. Gorelik liest sehr konzentriert aus Primo Levis Essay „Ist das ein Mensch?“, eine Hand über die andere gelegt, und schaut nur selten ins Publikum. Der Text hat ihre ganze Aufmerksamkeit. Am Ende ihrer Lektüre herrscht Stille auf der Bühne und im gesamten Saal. Jeder und jede braucht Zeit, diese schweren Zeilen zu verarbeiten.

Maryam Zaree wiederum liest schnell, gibt die Verzweiflung wieder, die das Buch „weiter leben“ von Ruth Klüger beschreibt. Klügers Erzählerin kann nicht atmen, denn sie bemerkt, dass ihr Dasein unerwünscht ist, und erneut herrscht eine beklemmende Stimmung im Raum. Auch nach ihrem Text ist es still.

Im Gegenteil zu Gorelik und Zaree liest Carolin Emcke, Autorin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, langsam vor und artikuliert manche Worte sehr deutlich, um diese zu betonen. Ihre Lektüre hat etwas fast Rhythmisches. Mit beiden Händen hält sie ihren Ausdruck von Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“ fest, in dem der Protagonist merkt, dass ein Mann, von dem er glaubte, er habe einen Gehstock, in Wirklichkeit eine Peitsche mit sich trug. Stille.

Maryam Zaree liest aus „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi

So wechseln sich die Lesenden an dem Abend ab. Insgesamt werden fünfzehn Auszüge vorgelesen. Unterschiedliche Stimmen kommen dabei vor: ein junges Mädchen, Sinti und Roma, ein homosexueller Mann, Opfer von Folter… Vor allem die Zeit nach dem Konzentrationslager wird dabei beschrieben, um zu zeigen, so Emcke, dass diese Vergangenheit gar nicht vorbei ist, auch nicht nach 1945, auch nicht heute. Texte von Primo Levi, Ruth Klüger, Imre Kertész, Jean Améry, Charlotte Delbo, Lutz van Dijk und Jorge Semprún werden eindrücklich vorgetragen, immer von Stille im ganzen Saal gefolgt, um den Gefühlen von Empörung, Hilfslosigkeit und Verzweiflung Raum zu geben. Heftige, brutale Zeilen, werden dabei nicht ausgespart: „Die Tote sind nackt, aufgestapelt.“ „Hier kommt man nur durch den Kamin raus.“ „Man darf mich mit der Hand ins Gesicht schlagen.“

Die drei Autorinnen geben zu, dass sie sich Gedanken darüber gemacht haben, ob diese Szenen vielleicht zu extrem seien. Aber was würde es bedeuten, wenn man diese weglassen würde? Schließlich dürfen die Erfahrungen dieser Menschen und der Horror, den sie ertragen mussten, nicht vergessen werden – auch wenn es Gorelik, Emcke und Zaree sichtbar schwerfällt und sie im Laufe des Abends immer tiefere Atemzüge nehmen müssen, bevor sie anfangen zu lesen. Das ist die Zumutung. Es ist aber eine notwendige Zumutung. Die letzte Lektüre des Abends wird von Maryam Zaree vorgetragen. Es handelt sich um einen Auszug von Jorge Semprúns Memoir „Schreiben oder Leben.“ Es sei möglich, mit der Sprache alles auszudrücken, „aber kann man auch alles hören? Hat man das nötige Mitgefühl dafür?“ Diese Frage hallt lange im Publikum nach. Sind wir als Gesellschaft bereit, ein offenes Ohr für Opfer rassistischer, diskriminierender, antisemitischer Handlungen zu haben? Sind wir als Gesellschaft bereit, ein offenes Ohr für unsere Vergangenheit zu haben und uns dabei angesprochen zu fühlen? Vielleicht ist genau dies der Weg, auch wenn es schwierig ist und eine Zumutung für alle Beteiligten ist, der Vergangenheit Rechnung zu tragen.

Ist das ein Mensch? Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree lesen gegen das Vergessen
02. März 2023

Von Valentina Poveda Córdova

Hallo! Mein Name ist Valentina Poveda und ich bin Autorin. Mit 18 Jahren bin ich aus meinem Heimatland Ecuador ausgewandert, um in Deutschland zu studieren. Ich habe meinen Bachelor in der Romanistik und Germanistik an der Universität Heidelberg absolviert. Aktuell studiere ich den Master „Literatur, Medien und Kultur der Moderne“ an der Universität Mannheim. Ich kann mich an keinen Zeitpunkt in meinem Leben erinnern, an dem Literatur nicht präsent war. Mir wurde vorgelesen, schon bevor ich geboren bin und seitdem habe ich mich von Büchern nie getrennt. Ich schreibe Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Theaterstücke... ich flirte mit jeder Gattung. Besonders am Herzen liegen mir aber Gedichte und Kurzgeschichten.