Die Veranstaltung hat ein aufsehenerregendes Versprechen im Titel: „Protest! Golineh Atai, Shole Pakravan und Olaf Kühl sprechen über Iran und Russland“ – auf den ersten Blick eine ziemlich gewagte Mischung, oder? Man wird sich vielleicht fragen, was diese beiden Länder überhaupt miteinander vereint – zumindest abgesehen davon, dass momentan kein Tag vergeht, ohne von einem der beiden Staaten in den Nachrichten zu lesen. Eine große Frage, die zumindest teilweise an diesem Abend beantwortet werden soll.
„Ich weiß ehrlich gesagt selbst noch gar nicht, wie ich das strukturieren soll“, sagt Moderatorin Golineh Atai zu Beginn des Abends mit einem Lachen. Sie sitzt wortwörtlich als verbindendes Element „zwischen den Stühlen“ von Iran und Russland. Die im Iran geborene Journalistin und Autorin arbeitete als Fernsehkorrespondentin in Moskau und kennt sich entsprechend mit beiden Ländern gut aus. Zu ihrer Rechten ist Shole Pakravan, Autorin und Menschenrechtsaktivistin aus dem Iran; zu ihrer Linken Olaf Kühl, ehemaliger Osteuropareferent und außerdem Autor eines neuen Buches über die Geschichte Russlands.
Kühl spricht zunächst ein paar einleitende Worte über die aktuellen Zustände in Russland und der Ukraine. Früher sei er von Russland begeistert gewesen, hatte Sprache und die Kultur sehr gemocht und deshalb auch Slavistik studiert. Die Geschehnisse der letzten beiden Jahrzehnte, angefangen mit der Gleichschaltung der Medien bis hin zum Angriff auf die Ukraine, haben ihm das Vergnügen an Russland aber schließlich verdorben, bedauert er. Seine Gefühle von dem Tag, als der Ukrainekrieg begann, beschreibt er als „ungeheure und hilflose Wut“. Genau von diesem Gefühl sei auch sein neues Buch getragen, das er zu Kriegsanfang zu schreiben begann und das mit seinem großen „Z“ auf dem Cover provozieren soll. Im Verlauf des Abends liest Olaf Kühl auch einen Auszug aus seinem neuen Werk vor.
Zunächst lenkt Golineh Atai den Blick aber auf den Iran und die Geschichte von Shole Pakravan, die hauptsächlich auf Englisch spricht, aber am heutigen Abend aus ihrem im Januar auf Deutsch veröffentlichten Buch vorliest. Dem Publikum ist Anspannung wie Ergriffenheit ins Gesicht geschrieben, bis Pakravan nach einigen Seiten und nachdem sie mehrfach mit den Tränen kämpfen musste, schließlich selbst sagt: „Ich kann nicht mehr.“ Zu emotional sind die Zeilen rund um die Briefe, die ihre Tochter Reyhaneh im Gefängnis geschrieben hat – vor ihrem Tod. Bevor sie an einem Strick hingerichtet wurde, weil sie sich gegen ihren Beinhahe-Vergewaltiger zu Wehr gesetzt und ihn dabei erstochen hatte. „Wie man ein Schmetterling wird. Das kurze, mutige Leben meiner Tochter Reyhaneh Jabbari“ lautet der Titel von Pakravans Buch. Eine Frau, die aus ihrem Heimatland fliehen musste, um selbst dem Schicksal zu entkommen, wie ihre Tochter zu enden. Denn Shole Pakravan wurde spätestens seit Reyhanehs Inhaftierung zu einer wichtigen Menschenrechtsaktivistin im Iran; was dort, wie wir spätestens seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini alle wissen, oft mit Haft oder sogar dem Tod bestraft wird. Und dennoch gehen heute so viele Menschen, besonders Frauen, im Iran auf die Straße und wehren sich gegen das Regime und seine menschenunwürdigen Regeln. So wie Shole Pakravan. „I learned from my daughter to be a rebel“, erklärt sie. Eine Rebellion, die das Publikum mit Zustimmung und Applaus würdigt.
Grenzenloser Mut, wie Olaf Kühl, auf den sich danach wieder die Aufmerksamkeit richtet, ihn bei den Menschen in Russland auch gerne sehen würde: „Ich wünsche mir mehr mutige Frauen für Russland, so viele mutige wie im Iran.“ Leider sei das nahezu ein Ding der Unmöglichkeit in einem Land, in dem die Medien quasi ausschließlich von Propaganda regiert werden und „Pressefreiheit“ ein absolutes Fremdwort ist. Proteste kann es dort also kaum geben. Wer sich nun fragt, wie Russland überhaupt zu dem werden konnte, was es heute ist, findet sicher in Olaf Kühls ganz frisch erschienenem Buch „Z. Kurze Geschichte Russlands von seinem Ende her gesehen“ zumindest einige Antworten. Mit den Worten „Die Russen haben sich nach dieser Wahnsinnstat als genau die Nazis erwiesen, die sie vorgeblich von dort vertreiben wollten“, beendet er seine Lesung und erntet mit diesem Statement Applaus von allen Anwesenden.
Im Anschluss spannt Golineh Atai den Bogen zwischen den beiden Staaten: Nachdem Kühl mafiöse Verbindungen in Russland thematisiert und von häufigen Vergiftungen (besonders von JournalistInnen) berichtet, stellt Pakravan fest: „It seems poisoning is a gun against Freiheit in Russland and Iran.“ Und auch aus Atais journalistischer Perspektive haben die beiden Länder etwas gemeinsam: Lange habe sich in Deutschland niemand für die Berichterstattung aus Iran und Russland interessiert; auch wenn die Menschen dort schon seit Jahrzehnten unterdrückt werden. „Man hat das einfach ausgeblendet“ – zumindest bis die Lage eskaliert ist. Umso wichtiger, betont Shole Pakravan, dass jetzt alle gemeinsam aufstehen und sich füreinander einsetzen.
Protest! Golineh Atai, Shole Pakravan und Olaf Kühl sprechen über Iran und Russland
09. März 2023