lesen.hören 17: Zwei Seiten derselben Medaille – Erb*innen und Nicht-Erb*innen! Marlene Engelhorn und Francis Seeck reden über Klasse und Geld


Zwei Seiten derselben Medaille sitzen am 28. Februar auf der Bühne der Alten Feuerwache und sprechen über Armut und Reichtum: Francis Seeck und Marlene Engelhorn, die Journalistin Brigitte Theißl moderiert den Abend.

Zunächst stellt sich für alle, denen die Namen nichts sagen, die Frage, wer die beiden eigentlich sind und warum sie über Geld und Klasse sprechen; zwei Themen, die zurzeit so viele Deutsche beschäftigen. Francis Seeck ist Kulturanthropolog*in, Autor*in und Antidiskriminierungstranier*in. In Seecks Publikationen werden unter anderem das Aufwachsen als Kind einer alleinerziehenden Mutter sowie das Erleben von Klassismus thematisiert. Seeck steigt an diesem Abend mit einer erschütternden Anekdote aus der eigenen Kindheit ein: Francis Seeck und Seecks Mutter gehen in einem Restaurant Pizza essen und werden dabei zufällig von einer Lehrerin gesehen. Am darauffolgenden Tag wird Seeck von besagter Lehrerin zur Rede gestellt: Wie können es Menschen, die von Armut betroffen sind, wagen, auswärts zu essen?

Francis Seeck, © Alexander Rozmann

Vergleicht man dies mit Marlene Engelhorns Lebenslauf, kann dieser nur Neid verursachen: Engelhorn ist Nachfahrin von Friedrich Engelhorn, dem Gründer der BASF; das Vermögen ihrer Großmutter Traudl Engelhorn wird laut Forbes auf 4,2 Milliarden US-Dollar geschätzt, von denen Engelhorn selbst mehrere Millionen erben soll. Sie besuchte einen privaten Kindergarten und eine Privatschule – wegen eines Restaurantbesuchs wird man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verurteilen. Doch trotz ihres Reichtums befürwortet Marlene Engelhorn eine Neuregelung der Steuerpolitik und Erbschaftssteuer und steht für soziale Gerechtigkeit ein.

Marlene Engelhorn, © Alexander Rozmann

Obwohl die Ausgangssituationen der beiden Gäst*innen des Literaturfests lesen.hören unterschiedlicher nicht sein könnten, verkörpern sie doch dieselbe Medaille. Denn Armut, wie Seeck sie kennt, und Überreichtum, mit dem Engelhorn aufgewachsen ist, sind voneinander abhängig. Das eine kann ohne das andere nicht existieren.

Privatsphäre als Klassenprivileg

Für die meisten Menschen ist die eigene Privatsphäre von großer Bedeutung, sie ist sogar im deutschen Grundgesetz verankert. Die Wenigsten würden es begrüßen, dränge man in ihren geschützten, nichtöffentlichen Bereich ein. Aber was hat die Privatsphäre mit Klasse oder Geld zu tun? „Privatsphäre ist ein Klassenprivileg“, sagt Francis Seeck vollkommen zurecht. Um staatliche Unterstützung zu erhalten, ist eine Offenlegung des gesamten Einkommens und aller Ausgaben notwendig. Wann eine Familie welche Anschaffungen macht und wie sie lebt, wird genaustens unter die Lupe genommen. Dabei sind spontane Kontrollbesuche nicht ausgeschlossen, erläutert Seeck.

Doch auch die digitale Privatsphäre von armen Menschen ist bedroht. Während wohlhabende Personen auf kostenlose Apps und Aktionspreise verzichten können, sind von Armut Betroffene dazu nicht in der Lage. Ohne genau zu wissen, welche ihrer Daten preisgegeben werden und was damit passiert, sind Menschen bereit, für eine kostenlose App oder eine Rabattaktionen ihre Privatsphäre einzuschränken.

© Alexander Rozmann

Superreiche machen die Demokratie undemokratisch

Vor dem deutschen Grundgesetz sind alle Menschen gleich. Folglich dürften die finanziellen Mittel einer Person in einer Demokratie keine großen Unterschiede machen. Richtig? Falsch! Laut der Millionenerbin Marlene Engelhorn wird die Macht der Überreichen so groß, dass sie die Demokratie aushebelt. Zunächst einmal ist spannend, dass Statistiken über das Vermögen von Reichen auf deren Selbstauskünften basieren. Das heißt, der Bevölkerung ist gar nicht bewusst „wie arg man eigentlich nichts weiß“, so Engelhorn. Diese „Macht wird am besten verschleiert, wenn man nicht darüber spricht“, erklärt sie weiter. In Deutschland besitzen die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. Und das laut Selbstauskunft, die Zahl könnte also in der Realität laut Engelhorn ganz anders aussehen. Diese zehn Prozent haben Zugang zur Politik, zu den Medien und zur Wirtschaft und nutzen diesen für sich. Die Ergebnisse zeigen sich beispielsweise in der Lobbyarbeit, die beweist, dass eben nicht alle Interessen gleichbehandelt werden.

Spenden, um das Image der Reichen zu verbessern

Das Thema Spenden lässt sich direkt mit diesen Ungereimtheiten der Demokratie verbinden, wird jedoch so selten thematisiert, dass es in diesem Beitrag hervorgehoben wird. Marlene Engelhorn ist kein Fan von Spenden und erläutert dies, indem sie Curt Engelhorn „durch den Kakao zieht“. Curt Rudolf Glover Engelhorn war ein Urenkel von Friedrich Engelhorn und somit ebenfalls Vorfahre von Marlene Engelhorn, der durch den Verkauf seiner Anteile rund 8 Milliarden DM erhielt – auf die er keine Steuern zahlen musste, weil der Sitz der Holding auf den Bermuda Islands ist. Curt Engelhorn spendete allerdings etwa 20 Millionen an eine Stiftung, die die Mannheimer Stadtmuseen unterstützen sollten. Das klingt zunächst sehr beeindruckend, denn wer ist schon so großzügig und spendet freiwillig 20 Millionen des privaten Vermögens? Aber Marlene Engelhorn macht dem Publikum klar: „Das sind nicht mal 0,5 Prozent seines Verkaufserlöses“. Hätte ihr Vorfahre damals Steuern auf den Verkauf gezahlt, wäre dieses Geld in die öffentliche Hand geflossen und im Sinne der Demokratie hätte überlegt werden können, was man mit dieser Summe anstellt. Aber durch das Umgehen der Steuern hatte Curt Engelhorn die Macht, die Höhe des Spendenbetrags festzulegen sowie selbst zu bestimmen, wofür das Geld schlussendlich eingesetzt wurde.

© Alexander Rozmann

Auffällig ist, dass die Sympathien des Publikums an diesem Abend mehr bei Marlene Engelhorn zu liegen scheinen, die sich sympathisch präsentiert und weiß, wie sie Menschen zum Lachen bringt, während die Reaktionen auf Francis Seeck etwas verhaltener wirken. Dass auch das auf ihr Herkunftsprivileg zurückzuführen ist, weiß Engelhorn, die festhält: „Durch die Art wie ich aufgewachsen bin, habe ich gelernt mir jeden Raum zu nehmen und ihn für mich zu beanspruchen. Das führt dazu, dass ich Francis Redezeit nehme und dafür entschuldige ich mich.“

Ist es nicht interessant, dass sich dieser Graben auch am heutigen Abend sowohl auf der Bühne als auch im Publikum weiterträgt?

© Alexander Rozmann

Liebe Erb:innen und Nicht-Erb:innen! Marlene Engelhorn und Francis Seeck reden über Klasse und Geld
28. Februar 2023