„Es fühlt sich furchtbar an.“ So lauten die ersten Worte von Autor:in und Dramaturg:in Sasha Marianna Salzmann, ganz in schwarz gekleidet, am Samstagabend bei der 16. Ausgabe des Literaturfestivals lesen.hören in der Mannheimer Alten Feuerwache. Salzmann, 1985 in Wolgograd (ehemals Stalingrad) geboren, in Moskau aufgewachsen und mit zehn Jahren nach Deutschland ausgewandert, sitzt auf der Bühne in der schummrig beleuchteten Halle mit rbb-Redakteurin und Kritikerin Anne-Dore Krohn, um ihren zweiten Roman Im Menschen muss alles herrlich sein zu diskutieren. Dass es sich furchtbar anfühle, ist Salzmanns Antwort auf die Frage, wie es sei, dass das Buch durch den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine „traurigerweise oder idealerweise“ eine unerwartete Aktualität und Dringlichkeit bekommen habe.
Eigentlich wollte man über den für den Deutschen Buchpreis 2021 nominierten Roman und über die Verleihung des Preises der Literaturhäuser 2022 an Salzmann sprechen. Doch die politischen Entwicklungen der letzten Tage lenken die Diskussion in eine andere Richtung. „Wir können nicht so tun, als sei nichts“, erklärt Krohn. „Wir werden und müssen über den Krieg sprechen – wir werden aber auch über das Buch sprechen.“
Wie aber soll das möglich sein? Wie soll man die kognitive Dissonanz überwinden, die durch den Versuch entsteht, Gedanken über den Krieg und über den Alltag im Gleichgewicht zu halten? Wie kann man sich auf die Figuren einer fiktionalen Erzählung konzentrieren, während reale Menschenleben für die politischen Ziele eines autoritären Staatsoberhauptes zum Opfer fallen? Um diese Dissonanz besser zu illustrieren, zitiert Krohn einen Eintrag aus dem Tagebuch Franz Kafkas aus dem Jahr 1914: „August 2. Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“
Wie Salzmann mit dieser Dissonanz klarkomme und wie es ihr gelinge, das Leben auf den beiden Seiten von Kafkas Gedankenstrich miteinander zu versöhnen, fragt die Moderatorin. „Mein Leben teilt sich seit vier Tagen in zwei Hälften“, antwortet Salzmann. Einerseits bekomme sie Nachrichten mit dringlichen Fragen über den Krieg, andererseits Babyfotos. Den Freund:innen, die ihr diese Fotos schicken, werfe sie allerdings nichts vor – das sei schließlich auch eine Realität. „Ich habe gelernt, dass es sehr wichtig ist zu wissen, wo man helfen und wo man nicht helfen kann“, sagt Salzmann. „Es hilft der Ukraine nicht, wenn alle jetzt durchdrehen.“ Aus dem Mund der Autor:in, die selber Freund:innen in der Ukraine hat, die teilweise sogar in den U-Bahn-Stationen Kievs sitzen, haben diese Worte besonderes Gewicht.
Aber zurück zum Roman: Im Menschen muss alles herrlich sein, eine intergenerationelle Migrationsgeschichte, folgt zwei Müttern und ihren Töchter, deren Lebenswege sie von der damals sowjetischen Stadt Gorlowka der 1970er Jahre ins Deutschland der Gegenwart führen. Die in der Sowjetunion aufgewachsenen Mütter und die in Deutschland aufgewachsenen Töchter finden es schwierig, den Abgrund zwischen ihren jeweiligen Lebenserfahrungen zu überwinden. Übrigens: Sucht man Gorlowka auf der Karte, wird man genau die Gegend finden, die man morgens in den Nachrichten als die Stätte einer laufenden Invasion sah.
Doch als sie das Buch schrieb war alles noch in Ordnung – oder? „Ich habe das Buch tatsächlich in einer anderen Welt verfasst“, erklärt Salzmann. Die aktuellen Entwicklungen seien aber nicht überraschend. „Let’s face it“, so Salzmann, „wir wissen seit Dezember, das etwas passieren wird.“ Außerdem existiere der Krieg in der Ukraine nicht seit drei Tagen, sondern seit 2014 – nur habe bis jetzt kein Mensch darüber geredet. Diesen Aspekt des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland versucht Salzmann im Roman zu illustrieren: Die Wurzeln des heutigen Konflikts sind tief und reichen viel weiter zurück in die Vergangenheit als drei Tage, als acht oder auch dreißig Jahre.
Um diese Situation besser zu verstehen, verfasste Salzmann ihren Roman. „Ich schreibe, um das zu verstehen, was ich nicht weiß.“ Der Impuls war eine gewisse Unzufriedenheit mit dem eigenen Verständnis über diesen seit 2014 existierenden Krieg und über die lange, schwierige Geschichte des Landes ihrer ukrainischen Vorfahren. „Ich wollte es für mich tun“, erläutert Salzmann. „Ich wollte erstmal verstehen, warum ich so wenig weiß.“ Sie beschreibt wie es war, sich mit dieser schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen. „Je näher man diesem ominösen Ort in der Geschichte kommt, von dem man denkt, ‚Ja, weiß ich schon‘, desto klarer wird, wie wenig man weiß.“
Um diese Lücken zu füllen und den Stoff für ihren Roman zu recherchieren, interviewte Salzmann Frauen (vor allem ältere Ärtztinnen), die die sowjetische Ostukraine und den Holodomor, den „großen Hunger“, miterlebt haben. Diese Herangehensweise, Fragen zu stellen und zuzuhören, empfehle sie aber auch denjenigen, die keinen Roman schreiben. „Das Buch ist ein Plädoyer dafür hinzuschauen“, sagt Salzman. „Ich hoffe, dass es meine Generation inspiriert, ihre Eltern zu befragen.“
Die historische Exaktheit spielt dabei für Salzmann eine untergeordnete Rolle, während die „emotionalen Innenwelten“ der Frauen als Leitprinzip für den Roman dienen. „Ich bin keine Journalist:in. Ich kann nicht mit meinen Augen das sehen, was diese Frauen gesehen haben.“ Sie vergleicht ihren Roman mit einem Gemälde des georgischen Malers Niko Pirosmani, der eine Giraffe malte, ohne je eine mit eigenen Augen gesehen zu haben. Das fertige Produkt sehe zwar nicht wie eine Giraffe aus, aber darauf komme es nicht an – wenigstens habe er es versucht. Dieser Versuch sei alles. „Wahrscheinlich ist das, was ich tue, auch so eine Giraffe.“
Der Roman ist – überraschend bei Salzmann, die sich als nicht-binär identifiziert – im generischen Maskulinum geschrieben. Wieso diese Entscheidung? „Ich versuche, ein Gefühl für eine Zeit herzustellen“, erklärt Salzmann. „Meine heutige Denkweise über Sprache und Geschlecht sind völlig irrelevant für die Sowjetunion der 1970er und 1980er Jahre.“ Im generischen Maskulinum zu denken sei aber schwierig gewesen. „Ich musste mich aus diesem Werk extrahieren und sagte mir: Du kannst deine politischen Bestrebungen anderswo ausleben.“ Schließlich gehe es in dem Roman nicht darum, was die Autor:in wolle, sondern was die Figuren wollen.
Zum Abschluss kommen Moderatorin und Autor:in zurück zu der Frage, wie man die kognitive Dissonanz überwindet. Soll man Kafka folgen und zur Schwimmschule gehen? Dialoge mit der älteren oder jüngeren Generation aufnehmen? Einen Roman lesen? „Was auch immer es ist, das den Leuten hilft, die sogenannte ‚Realpolitik‘ durchzustehen, sie sollen es tun“, rät Salzmann. Darf man, möchte Krohn wissen, der Situation sogar mit Humor begegnen? Unbedingt, antwortet Salzmann. „Humor ist ein Überlebensmechanismus – Humor ist Widerstand.“ Ob nun Humor, Schwimmschule oder andere Überlebensmechanismen, eines lässt sich nach diesem Gespräch zwischen Sasha Marianna Salzmann und Anne-Dore Krohn festhalten: Menschen zuzuhören, die entweder von sich selbst oder von ihren Vorfahren erzählen, ist ein guter Start.
Notiz: Sasha Marianna Salzmann und Anne-Dore Krohn haben ihre Honorare für die Veranstaltung an die Ukraine durch die Organisationen Bündnis Entwicklung Hilft und Aktion Deutschland Hilft gespendet.
26. Februar 2022
Der Menschen Herrlichkeit. Sasha Marianna Salzmann im Gespräch mit Anne-Dore Krohn