Die zwei Künstlerinnen Helene Hegemann und Lena Brasch verbindet vieles, doch was die beiden Literatinnen besonders zusammenschweißt, ist ihr „Elternhaus“, die Berliner Volksbühne. In einer „nicht ganz herkömmlichen Lesung“, wie Hegemann es formuliert, liefern die Autorinnen im Rahmen von lesen.hören nicht nur Eindrücke von ihrem eigenen Schaffen und ihrer Beziehung zu Literatur und Theater, sondern gestatten dem Publikum auch einen kleinen Blick hinter die Kulissen der Volksbühne, unter deren Einfluss sowohl Hegemann als auch Brasch groß geworden sind.
Auf der Bühne treffen sich zwei langjährige Freundinnen, die so gut miteinander harmonieren, dass sie sich überlegen sollten, einen Podcast über ihre Gedanken zu Kunst, Literatur und ihr Aufwachsen mit der Theaterbühne zu starten. Wer an diesem Abend eine konventionelle Lesung erwartet hat, wird überrascht. Der Auftritt von Hegemann und Brasch beginnt mit einem kurzen Videoausschnitt, der Bert Neumann, Bühnenbildner der Berliner Volksbühne und laut Hegemann und Brasch an Genialität unübertroffen, bei der Belastungsprobe einer Drehbühne zeigt, in der alle Anwesenden am Theater ihre Autos auf die Bühne fahren mussten. Deutlich zu erkennen ist, dass die Entstehungsprozesse am Theater oft eher außergewöhnliche Methoden nutzen und schnell wird klar, was für einen großen Einfluss der 2015 verstorbene Künstler auf die beiden Autorinnen hatte. Es scheint sie fast selbst zu überraschen, dass ihre Lesung ihm und der Zeit an der Volksbühne gewidmet ist. Bert Neumanns Tod sei für sie, so erzählen die Autorinnen, wie der „Untergang der Volksbühne“ gewesen, und es habe sich für sie damals angefühlt, als würde ihr „Elternhaus brennen“. Mit ihm sei eine Theatertradition gestorben, sodass beide eine Art Heimatverlust verspürt haben, der sie in ihrer eigenen künstlerischen Laufbahn geprägt hat. Was das mit dem heutigen Abend zu tun hat? Hegemann und Brasch erzählen dies, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt kennen und bewundern gelernt haben.
Vom Tod Neumanns geht es in die Gegenwart: Hegemann berichtet, Brasch habe als aufstrebende Theaterregisseurin mit ihrer Inszenierung von „It’s Britney Bitch“ an der Volksbühne Berlin im vergangenen Jahr einen riesigen Erfolg verzeichnen können. Ein Stück, das sich auf erzählerische und musikalische Weise mit unglücklicher Liebe, Abhängigkeit und der Wahrhaftigkeit im Pop auseinandersetzt. Lobeshymnen werden in einer gegenseitigen Vorstellungsrunde ausgetauscht. Hegemann habe laut Brasch mit ihrem ersten, 2010 veröffentlichten Roman „Axolotl Overkill“ ähnlichen Erfolg in der Literaturbranche gehabt und auch mit ihrem Buch „Patti Smith“ ein Meisterwerk geschaffen. Schließlich liest Lena Brasch einen Text vor, den sie 2015 verfasst und Bert Neumann gewidmet hat. Neumann scheint für beide ein großer Verlust gewesen zu sein, den sie auch acht Jahre nach seinem Tod weiter aufarbeiten. Auf der Leinwand neben Hegemann und Brasch ist groß das russische Wort „Nadryw“ (надрыв) zu lesen, das für die beiden Autorinnen unweigerlich mit dem Künstler verbunden ist und zeitgemäßer denn je erscheint. Neumann verwendete das Wort zur Inszenierung eines Bühnenbildes, bei dem der Begriff in Großbuchstaben über der Bühne prangte. „Nadryw“ ist unübersetzbar und beschreibt das Gefühl der Anspannung vor einer Explosion, erläutert Hegemann. Dieses Gefühl lässt sich auf viele verschiedene Bereiche übertragen, auch auf die aktuelle gesamtgesellschaftliche Situation und den Krieg in der Ukraine, der auch bei der Lesung von Hegemann und Brasch nicht unerwähnt bleibt.
Die Freundinnen zeigen immer wieder kurze Clips von der Entstehung von Theater an der Volksbühne und geben dem Publikum amüsante Einblicke in ihre Schaffungsprozesse, die laut Hegemann nirgends so frei aber auch nirgends so chaotisch wie an der Volksbühne gewesen seien. Hegemann wie Brasch haben durch ihre am Theater arbeitenden Väter viele Erfahrungen mit der Bühnenwelt sammeln und die verrückten Eigenheiten von Schauspieler*innen und Regisseur*innen beobachten können. Letztendlich stellen sie sich nach der „Beweihräucherung“, wie sie es formulieren, der Volksbühne die Frage, inwiefern dies ihre eigene Arbeit wohl beeinflusst habe. Hegemann und Brasch finden keine wirkliche Antwort darauf, doch es wird klar, dass beide versucht haben, sich von ihrer Theatervergangenheit zu lösen, um „auf eigenen Beinen zu stehen“ – daher auch auf Braschs Seite die völlig überraschende Inszenierung des Stückes „It’s Britney Bitch“: Sie wollte den Erwartungen nicht gerecht werden, etwas über ihre Familiengeschichte (immerhin entstammt sie der Familie Brasch!) zu inszenieren, aus diesem Grund wählte sie dieses Stück für ihre Erstinszenierung.
Sowohl Helene Hegemann als auch Lena Brasch haben an der Volksbühne viel für ihr Handwerk lernen dürfen. „Wenn die Regie nicht weiterweiß, Gegenlicht und Trockeneis“, sagt Brasch verschmitzt und gibt uns amüsante Einblicke in die Regiearbeit bei Theaterstücken. Dass diese Mittel zum Hervorrufen von Emotionen immer funktionieren, wie Brasch versichert, daran werden sich bestimmt alle Zuschauer*innen im Saal bei ihrem nächsten Theaterbesuch garantiert erinnern. Danach sinnieren die Autorinnen darüber, was sie am Theater am meisten berührt und welche Effekte die größte Wirkung auf sie als Zuschauerinnen erzielen konnten. Schöne Überleitung zur Lesung von eleHegemanns Buch „Patti Smith“ aus der Reihe der KiWi-Musikbibliothek, in dem es auch um Theater und die für sie prägende Begegnung mit der Sängerin und dem Provokationskünstler Christoph Schlingensief geht. Nach einer Debatte über die aufregendsten Theatermomente von Hegemann und Brasch lesen die Autorinnen abwechselnd mit verteilten Rollen aus Hegemanns aktuellstem Kurzgeschichtenband „Schlachtensee“ vor. Sie beschließen den Abend mit einem für beide sehr wichtigen Videoclip des russischen Künstlers Wladimir Wyssozki, der darin das Lied „Die Wolfsjagd“ auf der Gitarre spielt und dazu inbrünstig in russischer Sprache singt. Beide Künstlerinnen fühlen das Stück sichtlich, lächeln in sich hinein und wippen mit der Musik, warum genau, bleibt der Interpretation des Publikums überlassen. Vielleicht erzählen sie uns das ja beim nächsten Mal.
Treffen sich zwei Freundinnen – Helene Hegemann und Lena Brasch
27. Februar 2023